Carretera Austral


Eine atem(be)raubende Landstraße im Süden Chiles

Die Carretera Austral (Südliche Landstraße), offiziell bekannt als Ruta CH-7, erstreckt sich über 1240km durch die atemberaubende Landschaft Patagoniens von Villa O’Higgins im Süden nach Puerto Montt im Norden und ist eine der bekanntesten und schönsten Straßen Chiles. 1976 begannen unter der Militärdiktatur Augusto Pinochets die Bauarbeiten, um die abgelegenen Regionen im Süden Chiles besser erschließen zu können. Die Ruta7 bietet spektakuläre Ausblicke auf Gletscher, Fjorde, Seen und Berge und ist ein Paradies für Abenteuerlustige und Naturliebhaber.

Bei Cruze El Maitén, am westlichsten Ende des Lago General Carrera, sind wir auf die Carretera Austral gestoßen, sind ihr über knapp 700km gefolgt und haben tolle und abwechslungsreiche Tage mit ganz herzlichen und spannenden Begegnungen bis hinauf nach Chaitén erlebt.

Nach wie vor ist der Ausbau nicht komplett fertig gestellt. Asphalt und Schotterpiste wechseln sich ab und mitunter war es für unser PuCe richtig knapp, entgegenkommende Fahrzeuge vorbei zu lassen; der Abhang manchmal nur eine halbe Reifenbreite entfernt. Der Zustand der Ripio-Pisten ist zudem oft richtig schlecht – Waschbrett und riesige Schlaglöcher sind eine große Herausforderung für Fahrzeug und Fahrer; die Durchschnittsgeschwindigkeit sinkt auf einen Tiefpunkt. Und so kommt es, dass unsere Tagesetappen immer kürzer werden…nicht die Fahrzeiten sondern die Distanzen! Die Chilenen selbst verspüren scheinbar nur einen geringen Drang nach einer materialschonenden Fahrweise. Wir werden regelmäßig von wild klappernden und über die Piste schleudernden kleinen wie großen Fahrzeugen überholt oder von entgegenkommenden Rennfahrern in dicke Staubwolken gehüllt. Getreu unserem Motto „wir haben kein langsames Auto, sondern ein schnelles Haus“ lassen wir uns aber nicht aus der Ruhe bringen.

Unsere Bewunderung gilt dabei den vielen Fahrradtouristen, die sich wochenlang die Carretera Austral entlang quälen. Berg hoch, Berg runter, permanent supersteile Abschnitte, dazu der ständig präsente Wind und die von den Autos aufgewirbelten Staubwolken. Unser Angebot, wenn wir bei einem Kaffeestopp auf solche Adrenalinjunkies treffen, die Trinkflaschen wieder aufzufüllen, wird gerne dankend angenommen. Mehr als einmal haben wir sogar Gespanne mit Fahrradanhänger gesehen. Doch nicht für zusätzliches Gepäck…nein, für den lieben Hund! Pläne mussten durch die Corona-Epidemie verschoben werden, zwischenzeitlich einen (Schoß-)Hund angeschafft; der kann natürlich über mehrere Wochen oder Monate nicht alleine daheim bleiben. Also was machen? Mitnehmen!
Einmal campiert Collin von der Isle of Man neben uns zwischen Bäumen unter einem aufgespannten Regentarp. Er und sein Fahrrad sind mit über 100kg (!) Gepäck beladen. Seit mehr als 5 Jahren ist er nun schon unterwegs; sein Geld verdient er als Komponist. Und so muss er seinen Synthesizer und was sonst noch alles an Equipment dazugehört eben auf seine Reise mitnehmen. Immer, wenn du glaubst, schon alles gesehen zu haben, kommt ein noch Verrückterer daher…

Cruze El Maitén
Ruta 7
100kg Gepäck von Collin

Kurz nach El Maitén überspannt eine rotorange schimmernde Hängebrücke aus Stahl, das chilenische Pendant zur Golden Gate Bridge, den Zusammenfluss des Lago General Carrera mit dem Lago Bertrand. Spontan entscheiden wir uns, unter bzw. neben der Brücke unser Nachtlager aufzuschlagen. Im Laufe der Fahrt werden wir noch viele weitere imposante Brücken überqueren und fotografieren. Manche fügen sich ganz grazil in die Landschaft ein, andere haben Ähnlichkeit mit Saiteninstrumenten, so fein wirken die Brückenspannseile.

Anfangs sind wir guter Dinge, dass die Schotterpisten auf der viel genutzten Ruta7 in einem gepflegten, sprich gewarteten Zustand sind. Immerhin nutzen neben Einheimischen und Touristen v.a. das Militär mit ihren schweren Geräten die Nord-Süd-Achse. Doch schon die ersten 50km nach Río Tranquilo zeigen die Realität. Eng und kurvig sind zwei Adjektive, die es am besten treffen. Straßenzustand: siehe oben. Die Aussicht ist jedoch grandios! Die Vegetation verändert sich entlang der Strecke. Anfangs fahren wir an malerischen Seen und Flüssen entlang, dann kommen wir durchs Voralpenland, schließlich in den nordpatagonischen Regenwald. Eine Fahrt durch eine Traumkulisse, wie im Bilderbuch.



Nach unserer Ankunft in Río Tranquilo machen wir nachmittags eine dreistündige Bootstour zu den Mamorkathedralen (capillas de marmol). Es ist sonnig und absolut windstill – eine kleine Seltenheit hier.

Die Kalksteinformationen sind so einzigartig, dass sie als Santuario de la Naturaleza, als Naturdenkmal, geschützt werden. Über 3 Millionen Jahre haben die Wassermassen des Sees den Kalkstein ausgehöhlt, geformt und poliert und dabei rosa, grauweiße und blaue Marmoradern freigelegt. Die glatt geschliffenen, vielfach strukturierten Marmorwände spiegeln sich im Grün des Wassers in türkisblauen, eisgrünen und funkelnden weißen Strukturen. Da die Wellen nicht so hoch schwappen, fahren wir mit unserem Boot auch in die ein oder andere Höhle hinein und können die feuchten Marmorwände mit unseren eigenen Händen erfühlen. Auch dieses Naturschauspiel geht auf die vielen seinerzeit aktiven Vulkane zurück. Stark schwefelhaltige Niederschläge ließen die Gewässer gewissermaßen versauern und so hat sich das Wasser über Jahrmillionen in die Marmoradern buchstäblich hineingefressen. Heutzutage ist dieser Prozess zum Stillstand gekommen. Keine aktiven Vulkane mehr, ph-neutrales-Wasser, keine Kalksteinauflösung.

Den folgenden Sonntag haben wir als Ruhetag zum Verarbeiten unserer Eindrücke auserkoren. Christian leiht sich vom netten Patron des Campingplatzes Rio Chirifo einen Luftbläser. Unser Luftfilter ist mal wieder dran. In dicken Schwaden löst sich der in den vergangenen 10 Tagen eingesaugte Staub aus dem Filter. War höchste Zeit.

Am Vorabend hat sich neben uns eine chilenische Großfamilie rund um Papa Patricio breitgemacht. Eigentlich aus dem 100km entfernten Puerto Aysén, verbringen sie ein entspanntes Wochenende mit Freunden und Familie an diesem Ort. Sie wollten uns zuerst weismachen, dass sie die Hochzeit ihrer Tochter feiern und Christian fing schon an unter großem Gelächter der Beistehenden den Brautleuten zu gratulieren…Spaßvögel!

Und natürlich wollen alle mal einen Blick in das PuCe werfen. Da schon den ganzen Tag das Lagerfeuer für das abendliche Grillen brennt, werden wir als kleines Dankeschön für die Besichtigung kurzerhand mit dazu eingeladen. Wie könnte es anders sein: ein Lamm (cordero) ist auf der Estaca aufgezogen. Wir bringen Bier und Wein mit. Für den kleinen Hunger zwischendurch gibt es „Sopapillas“; ein rundes Teiggebäck, das im tiefen Fett in einer Pfanne über dem Feuer herausgebacken wird. Obendrauf kommt frisches Pebre Chileno (feingehackte Tomaten und Zwiebeln, Chili, Koriander, Petersilie, Essig & Öl). Wir werden gefüttert! Patricio und seine Frau sind sichtlich stolz, dass es den Deutschen schmeckt. Nur die Verständigung ist anfangs etwas holprig, da das hier in Patagonien gesprochene (manchmal schon fast gesungene), chilenische Spanisch für uns noch sehr ungewohnt klingt. Aber mit Händen und Füßen und viel Lachen entwickelt sich schnell eine herzliche Atmosphäre. Nach 5 Stunden ist das Lamm unter den kompetenten Händen vom Grillmeister fertig. Ähnlich wie Anfang Dezember in Río Gallegos gibt es auch jetzt kein Halten mehr. Immer wieder werden uns neue Stücke gereicht. Mit fetttriefenden Fingern schlemmen wir köstliches Lammfleisch direkt vom Spieß. Was für ein Genuss!

Etwas weiter nordöstlich, in dem Örtchen Villa Cerro Castillo, treffen wir zufällig Pavel und Iris aus Dortmund wieder. Wir haben uns an Weihnachten in Ushuaia kennengelernt. Von ihnen bekommen wir den Tipp, kurz vor dem Dorf auf dem ruhigen Parkplatz vor dem Paredon de las Manos mit herrlichem Blick auf den schneebetupften Cerro Castillo (das Bergmassiv erinnert an ein Burgfestung) zu übernachten. Paredon de las Manos bedeutet übersetzt: Wand der Hände.

Nachdem wir die Cuevas de las Manos in Argentinien ausgelassen hatten, können wir nun doch noch die alten Felsmalereien bzw. Felssprühereien in Chile anschauen. Morgen früh um 9 Uhr macht der Sitio Arqueologico die Pforten auf. So steht es auf dem Schild. Wir erfahren mal wieder live, dass Öffnungszeiten (horarios) eher als Hinweis oder Empfehlung zu verstehen sind. 9 Uhr kann auch mal schnell 9:45 Uhr bedeuten.

Man weiß bis heute nicht genau, warum die Handabdrücke auf den Felsen sind; diese Art der Höhlenmalerei war aber in einem großem Umkreis verbreitet und hatte sicher eine, für uns heute leider unbekannte Bedeutung. Die ältesten Manos dieser Stätte werden auf ca. 3000 bis 4000 Jahre geschätzt. Lediglich über die Art und Weise des „Malens“ wird vermutet, dass hierfür Farbe (in Wasser aufgelöste rotpigmentierte Erde gemischt mit Guanakofett) durch ausgehöhlte Guanakoknochen über die auf den Fels aufgelegten Hände gepustet wurde – ähnlich einem Blasrohr; antikes „airbrush“ sozusagen. Wir sind fasziniert von dem Gedanken, was die Menschen vor über hundert Generation wohl zu ihrem Tun bewegt hat und wie sie hier gelebt haben.

Kurz hinter Cerro Castillo müssen wir „Höhe machen“. Über eine Passstraße, bei der „der Straßenplaner wohl Schluckauf hatte“ (siehe Bild) geht es hinauf zum Mirador Cerro Castillo am Maultierpass (paso las mulas) und dahinter ganz sanft wieder bergab immer dem Lauf des Río Blanco folgend. Am Startpunkt des Wanderweges Las Horquetas (34km einfach) direkt am Río Blanco lassen wir es für heute gut sein und chillen bei Flussgeplätscher in der Sonne umgeben von Hummeln und Schmetterlingen. Am frühen Abend gesellen sich – welch´ große Überraschung – Julien, Cassi und Tochter Lilly zu uns. Julien war ja unser Autoauslöse-Marathon-Mitstreiter im Hafen von Montevideo (siehe Bericht „von Montevideo nach Frey Bentos“). Fast auf den Tag genau 3 Monate ist es her und hier treffen wir uns wieder. Beim Apero bis weit nach Sonnenuntergang werden Geschichten und Anekdoten der eigenen Reise erzählt und Tipps & Ideen für die nächsten Streckenabschnitte besprochen.

Die staatlichen und auch privat gegründeten Nationalparks in Patagonien dienen neben dem allgemeinen Schutz der imposanten Natur ganz besonders der Arterhaltung des stark gefährdeten Huemuls (im Deutschen: Südandenhirsch). Die heutige Populationsgröße der nur ca. 90cm schulterhohen Tiere wird auf nicht mehr als 1500 Exemplare geschätzt. Umso glücklicher können wir uns schätzen, eine solche, seltene Huemul-Kuh am nächsten Morgen beim Grasen direkt neben der Straße zu beobachten. 1 von 1500 ist keine schlechte Quote!

Apropos private Nationalparks bzw. Schutzgebiete: neben vielen kleineren Projekten hat sich besonders Douglas Tompkins (1943-2015) aus San Francisco engagiert. Der Mitbegründer der Modelabels Esprit und The North Face hatte sich der Rettung des patagonischen Alercewaldes verschrieben. Das Land, das Douglas und seine Frau Kristine damals erwarben, umfasst eine Fläche von 825 000 Hektar, verteilt auf ganz Patagonien und Feuerland. Mit derselben Zielstrebigkeit, mit der seit der Ära Pinochet zusammenhängende Waldgebiete von der Größe Bayerns dem Kahlschlag ausländischer Firmen preisgegeben wurden, ganze Gletscher versetzt werden sollten, um an Gold zu kommen, kaum ein Fleckchen Chile noch sicher war, kaufte er bestehenden Wald, um ihn vor der Häckselmaschine zu schützen. Obwohl Douglas sich als „deep ecologist“ verstand (= jeglicher Eingriff des Menschen sei zu verhindern), schufen er und sein Team jedoch stark kontrollierte Tourismusinseln, nicht zuletzt um der strukturschwachen Region neue Impulse zu geben. Es ist sicherlich nicht falsch zu behaupten, dass das Tourismusprojekt Carretera Austral nicht so viel Erfolg genießen würde, wenn Douglas Tompkins sich nicht so unbeugsam für den wilden Landstrich engagiert hätte. Und dieses Engagement, zusammen mit einem gestiegenen Umweltbewusstsein in Politik und Gesellschaft, hat dazu geführt, dass neben den Nationalparks Pumalin, Cerro Castillo und Valle Chacabuco viele weitere Gebiete in Patagonien mit heute insgesamt 4,5 Millionen Hektar Fläche unter Schutz stehen – etwa eine Fläche der Größe der Schweiz.

Straßenplanung mit Schluckauf
Straßenreparaturpflaster

In der einzigen, wirklich größeren Stadt entlang der Carretera, Coyhaique, machen wir nur einen kurzen Versorgungsstopp beim Supermercado Unimarc, Friseur für Christian (wird langsam zur Routine) und einem Reifenluftdruckcheck bei der örtlichen Mercedes-Benz-Niederlassung (wenn schon Luft, dann wenigstens vom Markenhersteller!). Danach geht es ins Valle Río Simpson zu Nacho auf seinen kleinen Campingplatz „Las Torres del Río Simpson camping y refugio “, von dem wir in der iOverlander-App gelesen haben.

Und so kommt es, dass wir um 18 Uhr mit Pavel, Iris (ja, die beiden sind auch hier gelandet) und einem englischen Fahrradpärchen (die mit dem oben beschriebenen Hund im Hundeanhänger) gemeinsam mit Nacho um den Tresen versammelt sind und einem Mate-Zeremoniell nach Gaucho-Art beiwohnen. Wir bekommen erklärt, wie die einzelnen Gegenstände heißen: Tasse = mate; Löffel/Trinkhalm mit eingebautem Filter = bombilla; Matekraut = yerba oder yerba mate. Und merken schnell, dass wir bei unseren eigenen zwei/drei Matezubereitungsversuchen in Montevideo grundsätzliche Fehler begangen haben. Z.B. darf das Wasser beim Aufguss nicht kochend heiß sein, den frischen Aufguss sollte man am besten sofort trinken (bei längerem Ziehen wird der Mate sonst schnell bitter). Und wenn nach mehrmaligem Aufgießen das Matewasser keine Schaumbläschen mehr an der Oberfläche bildet, ist die yerba „ausgelutscht“. Die yerba mate wird aus den Blättern und Zweigchen des Mate-Strauches gewonnen, der in West-Brasilien, Argentinien und Paraguay vorkommt. Wie bei unseren Tees werden oft zusätzliche Aromen beigemischt (Pfefferminze, Zitrone, Fruchtaromen, etc.). Die Puristen schwören jedoch auf „pur“; ähnlich unseren Schwarztees. Die Mate geht immer wieder die Runde entlang, wobei stets darauf zu achten ist, wie die Mate weitergegeben wird. Immer mit dem Löffel/Trinkhalm voran und dabei dem Empfänger in die Augen sehen; anfangs noch etwas bitter und herb im Geschmack verändert sich das Erlebnis zum Ende hin zu einer immer feineren und aromatischeren Note. Nach etwa einer Stunde fühlen wir uns gut gerüstet, zukünftig mit den Gauchos am Lagerfeuer die Feuerprobe bestehen zu können.

Und weil es uns bei Nacho so gut gefällt, bleiben wir kurzerhand noch einen weiteren Tag. Direkt vor der Tür fliesst der Río Simpson und lädt uns zu einem erfrischenden Bad ein. Nach dem Polar-Plunge in der Antarktis kann uns ja nichts mehr schocken. Die ersten Minuten schaffen wir es im kühlen Gletscherfluss nur bis zu den Knien, doch dann – nach einem beherzten „Abtaucher“ – fühlen wir uns wie ein Lachs im Wasser. Die Lachse werden wohl in ein paar Tagen beginnen, hier zu ihren Laichplätzen durchzuziehen. Noch sehen wir keine. Die angereisten Angler reiben sich aber schon voller Vorfreude auf fette Beute die Hände.

Mit vollem Tank feinsten Gletscherwassers verabschieden wir uns von Nacho und seiner Frau Richtung Puyuhuapi.

Kurz vor unserem Tagesziel an den Ufern des Pazifik in der Nähe des Parque Nacional Queulat gilt es aber noch eine Meisterleistung des Straßenbaus zu überwinden. Zum Pass beim Wasserfall Salto El Condor geht es so steil bergauf (dankenswerterweise auf Asphalt bzw. Beton), dass streckenweise ein Zusatzbelag zur Reifenhaftungsverbesserung aufgebracht ist. Ähnlich dem, den man bei uns auf Holztreppen im Freien sehen kann. Meist im zweiten Gang Vollgas erklimmen wir den Bergrücken. Am kleinen Parkplatz des Salto El Condor gönnen wir unserem PuCe eine Verschnaufpause. Und uns den kurzen Spaziergang zu dem hohen Wasserfall. Überall um uns herum blühen die Fuchsienbüsche und die mannshohen Mammutblätter.
Tja, wer hochfährt, muss auch irgendwann wieder runter. Hinter dem Pass beginnt dann das Abenteuer. Zuerst hört der Asphalt auf. Willkommen zurück auf Schotter und Staub. Und dann geht es in wilden Haarnadelkurven an der steilen Bergflanke entlang durch einen Zauber-Dschungel-Wald in die Tiefe. Wir bitten um den Beistand aller Heiligen, dass alles gut geht. Denn durch die z.T. mehr-als-180°-Kurven führt der Weg nicht eben (also waagrecht) hindurch, sondern folgt manchmal dem Berggefälle. Unser Wagen lehnt sich gefährlich schräg ins Tal. Erst im zweiten Gang Allrad schafft der Motor die nötige Bremswirkung (Motorbremse) und wir hoppeln mit gedrückten Daumen nach unten. Glücklicherweise ist es trocken, sonst wäre dieser Weg für uns schlecht passierbar. Von diesem Streckenverlauf haben wir ein Foto vom Navibildschirm gemacht…muss man mal gesehen haben. Und wieder kommt uns der Gedanke an die Carretera-Austral-Fahrradfahrer, die auch diesen Berg erklimmen müssen.



Als wir am Fuße des Berges mit einem Seufzer der Erleichterung ausrollen, fängt es an zu regnen…mal wieder Glück gehabt. Nun ist es nicht mehr weit zu unserem Übernachtungsplatz „Dolphin Spot“ hinter einer Felsklippe neben der Carretera. Ein belgisches Paar mit ihrem Dachzelt und Collin unter oben schon beschriebener Regenplane sind schon da und beobachten zwei (oder drei?) Delphine, die ganz nahe am Ufer durch die Brandung schwimmen. Nur springen will heute bei dem Regen keiner. Dafür gönnen wir uns ein echt Schweizer Käsefondue, das wir im Unimarc in Coyhaique ergattert haben. Genau das Richtige für Leib und Seele bei diesem Schietwetter. Der Preis? Bleibt unser Geheimnis!

Da wir keine Online-Reservierung für den Eintritt zu dem kleinen Parque Nacional Queulat haben, stellen wir uns gleich bei Öffnung um 9 Uhr an die Schranke. Aufgrund des Naturschutzgedankens wird jeden Tag nur ein bestimmtes Kontigent an Besuchern zugelassen (daher besser vorher online buchen). Weil es gestern so mistig war, werden heute trotz Sonnenschein scheinbar nicht alle Angemeldeten erwartet und auch wir bekommen Zugang. Die touristische Attraktion des Parkes ist ein 10km langer Wanderweg durch einen dampfenden patagonischen Dschungel hinauf zu dem Mirador auf den Gletscher „Ventisquero Colgante“ (hängender oder klebender Gletscher) mit seinen tosenden Wasserfällen. Der Anblick des riesigen Schneefeldes, das wirklich wie an den Berg hingeklebt wirkt, ist berauschend. Die sommerliche Schneeschmelze speist große Wasserfälle, die unter dem Eis hervortreten und die fast senkrechten Hänge hinabstürzen.

Uns tut die Bewegung gut. Nicht zuletzt, weil wir uns ein paar Stunden später in dem Fischerdörfchen Puyuhuapi mit leckerem Kaffee und Kuchen belohnen werden (Pflaumenkuchen für Patricia und Tiramisutorte für Christian). Aufgrund der vielen deutschsprachigen Einwanderer hat das Wort „Kuchen“ Eingang in den chilenischen Sprachschatz gefunden. Überall auf den Kreidetafeln an den Cafés sehen wir die heute frischgebackenen „Kuchen“ beworben. Eine gute Stunde weiter finden wir am Zusammenfluss von Río Oeste und Río Frio bei Villa Vanguardia einen einsamen Platz am Flussufer ganz für uns alleine. Hähne krähen irgendwo in der Ferne und am anderen Flussufer grasen Schafe und Kühe.

Nicht alles ist immer Freude, Lachen und Glück. In dem kleinen Museum in Villa Santa Lucia wird uns dies auf sehr traurige und schmerzvolle Art wieder bewusst. 2017 kurz vor Weihnachten riss nach langen und starken Regenfällen in der Region viele Kilometer flussaufwärts ein riesiges Stück Bergflanke ab und rauschte als Schlammlawine todbringend durch das kleine Örtchen.

21 Menschen haben an diesem Tag vor gut sechs Jahren ihr Leben verloren. Die Besitzer eines halbwegs stehengebliebenen zweistöckigen Hauses haben in mühevoller Arbeit und allen Widerständen zum Trotz die fast 3 Meter hohe Abraumschicht in und um ihr Haus abgetragen, es wieder instand gesetzt und ein sehr berührendes Museum, das Casa de la Bandera (Fahnenhaus), mit viel Foto- und Schriftmaterial zum Gedenken an dieses schlimme Ereignis eingerichtet.

Geerdet und unserer eigenen Privilegien bewusst begrüßt uns eine Traumkulisse auf der sanften Fahrt durch faszinierende Flußtäler nach Chaitén. Die Vegetation sprüht in allen Grüntönen. Links und rechts um uns herum erheben sich die Berge, manche noch schneebedeckt. Es blüht, summt und plätschert, wo wir nur hinsehen. Mit einer gemütlichen Leichtigkeit cruisen wir der Küste entgegen. Viel zu schnell erreichen wir dann am Nachmittag Chaitén und den Pazifik. Es hätte gern noch so weitergehen können.

Und hier gilt es eine Entscheidung zu treffen:
1. Weiterfahrt auf der Carretera Austral bis Caleta Gonzalo, um dann per Schiff den Anschluß nach Hornopirén bzw. Puerto Montt (nördlichstes Ende der Carretera Austral) zu machen oder
2. von Chaitén aus über den Golfo Corcovado auf die Isla de Chiloé übersetzen und unsere Reise dort fortzusetzen.

Viele Reisebekanntschaften haben uns von Chiloé als lohnenswerten Umweg erzählt. Am bekanntesten sind die vielen kleinen Holzkirchen aus dem 17. und 18. Jahrhundert, die mittlerweile zum UNESCO-Weltkulturerbe gehören. Mal sehen, ob wir trotz Hochsaison und ohne Vorbuchung eine Überfahrt nach Chiloé ergattern können.

Zwei Fährgesellschaften gibt es für den achtstündigen „Sprung“ nach Chiloé. Es ist Sonntag. Trotzdem öffnen die Büros auch heute für ein kurzes Zeitfenster; es ist ja Hochsaison. Pünktlich um 18 Uhr stehen wir in der Schlange vor der Somarco-Reederei und können nach einer guten halben Stunde optimistischen Wartens lächelnd ein Fährticket für heute Abend 22 Uhr-Abfahrt in die Sonne halten. Läuft! Morgen früh werden wir bei Sonnenaufgang in Castro auf Chiloé ankommen.

5 Kommentare zu „Carretera Austral“

  1. Hans und Elisabeth

    Die Fotos von den Marmorhöhlen sind ja der Wahnsinn. Könnt ihr glatt als Kalender vermarkten zur Aufbesserung der Reisekasse. Danke für die kurzweiligen Berichte mit den interessanten Hintergrundinformationen und die schönen Bilder. Wir wünschen euch weiterhin eine gute Fahrt und eine schöne Zeit.
    Elisabeth und Hans

  2. Marlies und Peter

    Es ist erfrischend eure Berichte zu lesen😉, vor allem wenn man sie selber erleben durfte☺️. Weiterhin gute Fahrt und Grüsse aus San Martin de los Andes
    Marlies und Peter

    Übrigens: da hats ein grosser PP direkt am See für euren Kleinen😁

  3. Conheci o casal e sua grande aventura de vida hoje no Mirador Lago todos los Santos, achei incrível a coragem de vcs sabendo que ficarão 1 ano na estrada, vivendo experiências e conhecendo novas culturas.
    Vou usar suas dicas na minha viagem pela Carretera Austral.
    Bons ventos os acompanhe 💪🏻

  4. Hellmut von Blücher

    Danke für Eure tolle Berichterstattung.
    Mit großer Freude lesen wir Eure ausführlichen Reiserlebnisse.
    Weiterhin Euch gute Fahrt.
    Jenny und Hellmut

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